Ostello diffuso «Wild Valley»
Ein nachhaltiges Beherbergungsangebot im Tessiner Onsernonetal
Ein nachhaltiges Beherbergungsangebot im Tessiner Onsernonetal
Steile Hänge, grüne Wälder so weit das Auge blickt und eine einzige, enge Zufahrtsstrasse, die sich von Dorf zu Dorf durchs Tal schlängelt: Das ist das Onsernonetal im Kanton Tessin, eines der vier Täler oberhalb von Locarno. «Es ist bei uns schon etwas wie im Wilden Westen», sagt Michael Keller. Der 42-jährige ist der Gründer vom Ostello diffuso «Wild Valley». Ostello diffuso heisst so viel wie «verstreute Herbergen» und soll leerstehenden Häusern durch einen sanften Tourismus wieder neues Leben einhauchen. Mike, wie er von allen genannt wird, ist im 50-Seelendorf Crana aufgewachsen, einem der Orte zuhinterst im Tal. Seine Eltern kamen in den 1970er-Jahren als Aussteiger in die Region und führten in Ascona einen Hippie-Laden. «Es war die Schönheit und die Unberührtheit des Tals, die meine Eltern damals anzog», erzählt Mike. Seine Mutter, eine New Yorkerin, und sein Vater, ein Zürcher, trennten sich jedoch bald. So kam es, dass Mike mit sieben Jahren zusammen mit seiner Mutter und den beiden Schwestern nach Amerika zog. Sein Herz aber blieb im Tessin: «Für mich war immer klar, dass ich eines Tages ins Onsernonetal zurückkehren möchte».
Nach seinem Studium der internationalen Beziehungen arbeitete Mike zuerst für mehrere amerikanische Non-Profit-Organisationen im Ausland, bevor er als Delegierter für das internationale Komitee vom Roten Kreuz in Ländern wie Tschad, Afghanistan oder Palästina tätig war. Doch ganz zufrieden war er in seinem Job nicht, zu indirekt schien ihm seine Hilfe. «Ich war damals zur Überzeugung gelangt, dass man den Leuten vor Ort wirklich hilft, wenn man ihnen Arbeit bietet.» Er kündigte, ging auf Reisen und entschied sich, in Palästina ein Hostel aufzubauen. «Wir hatten eines der grössten Hostels in Palästina», sagt Mike. Trotz seiner Arbeit verbrachte er fast alle Sommerferien im Tessin. Hier hörte er im Sommer 2016 seinen Nachbarn sagen, dass die Gemeinde nicht wisse, was sie mit den leerstehenden Herbergen anfangen solle. Mike wurde hellhörig: «Ich wusste, dass man hier im Tal einen sanften, nachhaltigen Tourismus aufbauen kann. Es brauchte einfach den nötigen Schritt in die Digitalisierung». So fing Mike an, für die Gemeinde die drei bisher leerstehenden Herbergen im Internet mit der Idee eines Ostello diffuso, also einer verstreuten Herberge, an Touristen zu vermieten. Mit Erfolg.
Die Nachfrage war da, und Mike gründete seine eigene Plattform «Wild Valley». Er nahm während der Corona-Zeit auch Ferienhäuser in sein Sortiment auf und vermietet diese im Auftrag der Eigentümer. «Davor standen diese Häuser die meiste Zeit leer. Jetzt vermiete ich sie an Touristen», sagt er, «so werden sie das ganze Jahr hindurch benutzt und alle haben etwas davon». Und weil die Häuser ja nach jedem Besuch gereinigt und gewartet werden, braucht es viel Personal. Inzwischen arbeiten rund 12 Personen für «Wild Valley», die meisten wohnen selbst im Tal.
Jury-Mitglied Werner Schiesser
Das Onsernonetal ist topografisch eine Herausforderung: Die Landschaft ist rau, die Hänge sind steil. Flachen Boden und somit Parkplätze gibt es kaum. Auf einen Massentourismus will man daher bewusst verzichten. «Es ist nicht mein Ziel, möglichst viele Touristen anzulocken, für diese hätten wir hier gar keinen Platz», sagt Mike, «aber ich möchte bereits bestehende Infrastruktur nutzen, um einen sanften Tourismus aufzubauen». Für die Zukunft des Tals sei das eminent wichtig, findet Elia Gamboni, Verantwortlicher für die wirtschaftliche Entwicklung des Onsernonetals bei ERS (Ente Regionale di Sviluppo): «Die Einheimischen müssen hier zwingend Arbeit haben, damit es nicht noch mehr Abwanderung gibt. Das Ostello diffuso bringt nicht nur wertvolle Gäste ins Tal, die der lokalen Wirtschaft wieder Aufschwung geben, sondern schafft auch direkt Arbeitsplätze».
Ideen hat Mike noch viele. Eine davon hat er kürzlich realisiert: «Seit diesem Jahr vermitteln wir auch Ferienhäuser aus dem Nebental im Centovalli auf unserer Plattform. Auch dort gibt es viele Häuser, die die meiste Zeit leer stehen». Doch was passierte eigentlich mit dem Hostel in Palästina? «Leider hat es die Corona-Zeit nicht überlebt», sagt Mike, «doch mittlerweile habe ich hier ja genügend Arbeit – in meiner Heimat».